Wollte man die deutsche Mentalität zusammenfassen, wäre der Slogan “arbeiten, arbeiten, arbeiten” mehr als treffend. Denn wir (Weiß)Deutschen lieben unsere Meritokratie und leben bekanntlich, um zu arbeiten. Die 40-Stunden-Woche gehört zu unseren Lieblingswörtern, kapitalistische Arbeitsmoral und die damit einhergehende Abnutzung menschlicher Körper sind fest in Stein gemeißelt.
Der Fokus liegt auf der Karriere. Geld soll gemacht werden, ein Bausparvertrag wird empfohlen. Ohne Witz, ich weiß nicht, wie oft dieses Wort bei Gesprächen mit Freund*innen über die Zukunft Erwähnung fand. Natürlich muss man hart arbeiten, Faulheit oder alles andere: verpönt. Scheitern, das hat nichts mit vorherrschenden Strukturen zu tun, sondern ist ein individuelles Versagen.
Ich kam nie hinterher. Studiere noch immer, bin noch nicht von meinen Eltern unabhängig. Denn ich bin krank. Rückenkrank. Ich kann nicht lange sitzen, bin von chronischen Schmerzen und Verspannungen geprägt und der Alltag überfordert mich wiederholt. Die Aussicht, “normaler” Lohnarbeit nachzugehen, sie ist für mich schon längst in unerreichbare Ferne gerückt.
Bis vor Kurzem glaubte ich der so charmanten neoliberalen Lüge, dass dies alles durch meine fehlende Anstrengung bedingt ist. Ich müsste einfach mehr Produktivität zeigen: Mehr Kurse belegen, mehr arbeiten. Doch gleichzeitig verschärfte sich die Symptomatik meiner Kondition so sehr, dass ich es nicht mehr von der Hand weisen konnte. Ich bin nicht able-bodied.
Ich spiele schon eine ganze Weile mit dem Gedanken, meine alltäglichen Erfahrungen in Essays, Prosa und sonstige niedergeschriebene Formen zu verwandeln. Denn obwohl ich bereits mein gesamtes Leben mit dieser Kondition lebe, benenne und verstehe ich sie gerade mal seit knapp einem Jahr.
In anderen Worten, ich war mir des Ableismus, der mich betraf und sich in meinem Alltag bemerkbar machte, gar nicht bewusst. Lange Zeit schämte ich mich für das Unwissen meinerseits, verschwieg es und blieb lieber stumm. Das möchte ich nicht mehr. Denn ich lernte, dass das Fragen unglaublich wichtig ist und wie toll es ist, neue Dinge zu lernen. Ich möchte diese Reise beginnen und andere an meinem Lernprozess teilhaben lassen.
Ich bin chronisch krank. Ich bin nicht “normal funktionierend”, die 40-Stunden Woche kommt für mich niemals in Frage. (Überraschung: Kommt sie für niemanden, der gesund leben möchte.) Ich höre einfach auf, die Schuld immer nur bei mir zu suchen.
Denn der Großteil der deutschen Gesellschaft interessiert sich nicht für Personen, die nicht in dieser perfiden Leistungsmaschinerie funktionieren. Menschen, die körperlich eingeschränkt, ich wiederhole, nicht able-bodied, sind. Denn ich, und viele andere, wir passen nicht in das Bild der “deutschen Tüchtigkeit” oder des kapitalistischen Leistungsfetischs. Und wenn über uns gesprochen wird (die Betonung liegt auf WENN), dann nur in einem mit Mitleid geschwängerten Ton.
Deswegen starte ich “Verspannungsbogen”. Denn ich will sichtbar nicht funktionieren. Ich will ein Chaos, Disaster und ein Faulpelz sein. Schamlos werde ich meine Übersensibilität zur Schau stellen. Und nicht in den Leistungsfetisch passen. Ich bin weiß, cis und ökonomisch abgesichert. Ich kann meine Ressourcen für mehr Sichtbarkeit nutzen: Sei es, durch das Teilen meines Alltags als chronisch kranke Person, oder dadurch, andere zur Stimme kommen zu lassen. Natürlich möchte ich meine Machtposition als weiße Person in diesem System nicht unreflektiert lassen.
Ich kann nicht klar sagen, wohin dieser Blog geht. Es gibt unglaublich viele Aspekte, die ich im Umgang mit der ableistischen deutschen Mehrheitsgesellschaft und ihren Institutionen noch lernen muss. Alles, um ehrlich zu sein. Doch ich möchte diesen Prozess aufzeigen und dazulernen. Denn der diskursive Raum bezüglich dieses Themas blieb bisher beinahe völlig unerschlossen. Ich möchte das ändern. Du auch?
Verspannungsbogen
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